Mutter Erde! Tränk in meiner Aue
Deine Kinder nun mit frischem Thaue,
Und erquicke diese lechzende Flur!
Selig ist der Unschuld die Natur!
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Diese Aufzeichnungen vermischten Inhalts waren nicht zum Druck bestimmt, erstaunlich niedrig soll dabei auch die Zahl derer sein, die er später in seinen veröffentlichten Schriften verwertet hat. Immer deutlicher setzt sich doch heute die Überzeugung durch, dass gerade diese Aufzeichnungen das Opus magnum Heinses darstellen, der – aus dieser Perspektive gesehen – als einer der bedeutendsten Aphoristiker und Essayisten des 18. Jahrhunderts erscheint (nicht zufällig wurde er auch der Namensgeber der Medaille, die von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur für hervorragende Leistungen in der essayistischen Literatur verliehen wird). Was an jenen Texten überrascht, sind eine ungewöhnliche Originalität des Gedankens, der oft Wege geht, die sehr fern der Hauptstraßen der Ästhetik und Philosophie jener Zeit liegen, eine außerordentliche Selbständigkeit des Urteils, die oft an Respektlosigkeit gegen die größten Gestalten der Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte grenzt, endlich auch Ironie und ein eigenartiger Sinn für Humor.

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts blieb dieser Teil von Heinses Werk so gut wie völlig unbekannt. Seine Aufzeichnungen ruhten vergessen in Kästen, die er – zusammen mit seinem Schädel – dem berühmten Anatomen Samuel Thomas Sömmering vermacht hatte. Aus dieser Vergessenheit holte sie erst die monumentale Edition seiner Schriften, die von Leitzmann und Schüddekopf zuwege gebracht wurde, zwei hochverdienten Germanisten, denen das deutsche Lesepublikum auch die erste kritische Ausgabe der Sudelbücher und Briefe Lichtenbergs verdankte. Jene Edition ist heute oft Gegenstand von Kritik: Die Herausgeber gingen ziemlich souverän mit Heinses Handschriften um, indem sie z.B. Passagen miteinander verbanden, die nie ein Ganzes bildeten. Im Laufe der beinahe achtzig Jahre, die seit dem Erscheinen des letzten Bandes (1925) verstrichen sind, hat man übrigens auch einige früher unbekannte Manuskripte wiedergefunden. Dies alles bewirkte, dass vor einigen Jahren Arbeiten an einer neuen kritischen Edition der Tagebücher aufgenommen wurden, die zum 200. Todestags des Autors herauskommen soll und ihn hoffentlich wieder in den Rang einer der interessantesten Individualitäten der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts einsetzen wird. Heute klagt übrigens niemand mehr – wie es die ersten Rezensenten der kurz nach Lichtenbergs Tode veröffentlichten Sudelbücher taten –, dass jene Fragmente nie zu einem zusammenhängenden, geschlossenen Ganzen gefügt wurden. Den heutigen Leser braucht man nicht davon zu überzeugen, dass eine solche quasiaphoristische Niederschrift von flüchtigen Gedanken und Einfällen ein vollwertiger literarischer Text sein kann. Denn der Aphorismus – auch in der sich selbst noch nicht völlig bewussten Gestalt, wie er sie im 18. Jahrhundert annahm – ist ja nichts anderes als, wie es geistreich der polnische Aphoristiker Wieslaw Brudzinski definiert hat, „ein Einfall zu etwas Größerem, durch keine Ausführung verdorben.“[42] Im Falle von Heinses Schriften scheint es eine besonders zutreffende Definition.
Erklärung der Fußnoten : siehe nächste Seite
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J.J.Wilhelm Heinse
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