Mutter Erde! Tränk in meiner Aue
Deine Kinder nun mit frischem Thaue,
Und erquicke diese lechzende Flur!
Selig ist der Unschuld die Natur!
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    Der damalige Intellektuelle, wenn er kein Universitätsprofessor oder Beamter ist, lebt gewöhnlich in ständiger Abhängigkeit von allerlei Gönnern, die ihm Beschäftigung, Obdach und Reisegelder geben. Sich in einer solchen Rolle wiederzufinden, erfordert eine nicht geringe diplomatische Gewandtheit, Gefügigkeit und manchmal auch das Talent eines Hofschmeichlers. Als Gleim ihm einmal Gebrauchtkleidung schenkt, drückt Heinse seine Dankbarkeit in einer recht barocken Phrase aus: „Ich werde mehr Wollust empfinden, wenn ich Hemd' und Kleid aus Ihrer Hand trage, als Carl der 5te bey seiner Kaisercrone"[38]. Diese ständige Abhängigkeit erfordert außerdem die Fähigkeit, sich den Erwartungen des jeweiligen „Sponsors“ anzupassen und folglich auch die Bereitschaft, auf eine offene Äußerung seiner Meinungen zu verzichten. Winckelmann etwa ist bereit, um sich in Rom ansiedeln zu können, zum Katholizismus zu konvertieren – wenn auch ohne große Lust. Das Opfer lohnt sich jedoch: Mt Hilfe römischer Bischöfe macht der Gelehrte in Italien eine glänzende Karriere und erlangt internationalen Ruhm als einer der hervorragendsten Kenner der antiken Kunst. Auch Heinse ist eigentlich sein Leben lang auf die Gnade verschiedener Gönner angewiesen, die dabei, wohlgemerkt, nur selten seine ästhetischen, moralischen und religiösen Überzeugungen teilen. Wieland fühlt sich durch dessen unsittliche Neigung zur erotischen Literatur verletzt und Jacobi findet an seiner Faszination für den Pantheismus wahrscheinlich auch kein Gefallen. Heinse versteht es jedoch offensichtlich, eine gemeinsame Sprache mit seinen Brotgebern zu finden. Dies erleichtert ihm wahrscheinlich sein persönlicher Charme, den viele seiner Zeitgenossen erwähnen: „Heinses Bekanntschaft mag schon interessant sein“, schrieb Schiller an Friedrich Huber am 29. Juli 1788, „er ist einer von diesen Köpfen, die nichts so Merkwürdiges schreiben können, als sie selbst sind, und seine Augenblicke vor dem Schreibtisch sind gewiß nicht die schönsten seines Geists, von dieser Art, glaube ich, ist auch Göthe“[39].

    Heinse selbst stellt melancholisch fest: „Auf andere Menschen bauen, heißt auf eines anderen Dach bauen, wo man gar bald lästig, und schon ein geringer Grad von Wind zum Sturm wird“[40]. Trotzdem bleibt ihm nichts Anderes übrig, als „auf eines anderen Dach zu bauen“: Kurz nach der Rückkehr aus Italien bekommt er 1787 die Stelle des Vorlesers und später auch Bibliothekars am Hofe des Mainzer Kurfürsten und Erzbischofs Friedrich Karl von Erthal. 1794 wird der Sitz der Bibliothek auf das Schloss in Aschaffenburg verlegt. Die Veröffentlichung des Buches, das man als beinahe pornographisch ansieht (und das zu Lebzeiten des Autors noch zweimal verlegt wird), scheint seiner Karriere als Bibliothekar und Hofrat eines katholischen Bischofs gar nicht geschadet zu haben[41]. Sein nächstes, dreibändiges Werk, Hildegard von Hohenthal (1795-1796) hat allerdings keinen so provokativen Charakter mehr wie Ardinghello. Heinse selbst bezeichnet es gern als eine eher wissenschaftliche Arbeit. Nicht ohne Recht, denn der Roman ist im Grunde ein musikologisches Traktat über die italienische Oper und seine spärliche Handlung liefert nur einen Vorwand für weitschweifige theoretische Ausführungen. Diesmal verkünden auch die Helden kein Lob der freien Liebe mehr und ihre Liebschaften enden, wie es sich gehört, mit – durchaus standensgemäßen – Eheschließungen.

     Heinse hat noch eine Leidenschaft: das Schachspiel. Und eben der Schachtheorie widmet er seinen letzten, 1803 erschienen „Roman“ Anastasia und das Schachspiel, der schon fast gänzlich der klassischen Handlung beraubt ist. Am 22. Juni desselben Jahres stirbt der Schriftsteller in Aschaffenburg am Schlaganfall.

Hätte Heinse nur die zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften hinterlassen, würden heute nur die gewissenhaftesten Literaturhistoriker seiner gedenken. Selbst Ardinghello, ein Roman, der in der Geschichte des deutschen Schrifttums ja eine ziemlich bedeutende und nicht zu übergehende Rolle gespielt hat, kann bei heutigen Lesern schwerlich auf großen Beifall hoffen. Doch der Nachlass Heinses umfasst auch Texte völlig anderer Art. Von 1774 an führte der Schriftsteller regelmäßig Tagebücher. Sie hatten freilich keinen persönlichen Charakter und erinnern vielmehr an die Sudelbücher Georg Christoph Lichtenbergs: Heinse notierte in ihnen verschiedene Bemerkungen, ästhetische Betrachtungen, Beschreibungen von Landschaften und Kunstwerken, Erwägungen religiöser, philosophischer und politischer Natur, Überlegungen zur Sittengeschichte, Moral und Sexualität, Musiktheorie, Schachtaktik usw.
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J.J.Wilhelm Heinse
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