Mutter Erde! Tränk in meiner Aue
Deine Kinder nun mit frischem Thaue,
Und erquicke diese lechzende Flur!
Selig ist der Unschuld die Natur!
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     Die Erotik Ardinghellos ist dabei eher eine Projektion unerfüllter Träume als Niederschrift wirklicher Erfahrungen des Autors. Merkwürdigerweise fehlen eigentlich in der Biographie Heinses, ohne Zweifel eines großen Kenners der damaligen erotischen Literatur, jegliche Spuren irgendwelcher dauerhafterer Beziehungen zu Frauen. Zu bezweifeln ist, ob der oft am Rande des Elends lebende Schriftsteller sich auch während seiner Italienreise all jenen Lebensfreuden hingeben konnte, die sein Held so reichlich genießt. Für wenig wahrscheinlich hält dies jedenfalls der Verfasser einer der besten Monographien über Heinse, Claudio Magris, der ihn einen „tugendhaften“ oder „enthaltsamen“ Erotomanen (erotomane casto)[14] nennt. Auch eine Flucht auf „glückselige Inseln“ ist eine utopische Sehnsucht, die den Schriftsteller seit langem schon begleitet. Bereits 1771 schreibt er Gleim: „Vielleicht kann ich mich auf meiner Reise zu einer Kolonie gesellen, die ein schönes Land in einem glückseligen Klima aufsuchen will!“[15] Woanders fügt er hinzu: „Oh, wie will ich mich freuen, wenn ich einmal unter Menschen komme, die nackend gehen und wo ich nackend gehen kann“.[16] Der Traum, sich aus der geistigen Enge der deutschen Provinz hinauszureißen, verwandelt sich bei Heinse in eine leidenschaftliche Anklage der christlichen, oder wie er sich in Ardinghello ausdrückt, „barbarischen“ Moral, die nicht nur „Feindin des Lebendigen“[17], sondern auch etwas Unnatürliches und Erkünsteltes ist: „Alle unsre Moral ist gemacht und steht nur in Büchern“.[18] Diese Moral ist für wahrhaft große Menschen nicht verbindlich, und erst recht nicht für Künstler. Bereits im Vorwort zu seiner skandalerregenden Petronius-Übersetzung schrieb er: „Die Dichter, Maler und Romanschreiber haben ihre eigene Moral. Es wäre eine sehr unbillige Forderung, wenn man von ihnen verlangte, sie sollten lauter Grandisonen, Madonnen und Kruzifixe und Messiaden zur Welt bringen. Die Moral der schönen Künste und Wissenschaften zeigt die Menschen, wie sie sind und zu allen Zeiten waren“.[19] Diese Träume vom „Übermenschen“, später auch theoretisch in einer zu Lebzeiten des Autors unveröffentlicht gebliebenen Abhandlung Megalopsychos. Ein Mann von großer Seele systematisiert, deren geistiges Klima und Sprache nach der Meinung Max L. Baeumers schon den Zarathustra Nietzsches vorankündigen[20], haben ihre Quelle zum Teil in der von den Dichtern des Sturm und Drang hervorgebrachten Idee des „Kraftgenies“, das, wie 1788 der berühmte Freiherr von Knigge schrieb, „sich über Sitte, Anstand und Vernunft hinauszusetzen einen besondern Freibrief zu haben“ glaubte[21]. Über die Einfälle der jungen Rebellen machen sich dann auch die vernünftigeren Zeitgenossen, wie Georg Christoph Lichtenberg oder Jean Paul Richter und Nachkommen, wie etwa Anette von Droste-Hülshoff, erbarmungslos lustig: „Ich wette, du meinst dich ein Kraftgenie, /Und scheinst doch andern ein Flegel“[22].

    Zum Zeitpunkt, wo Heinse seinen Roman veröffentlicht, ist die Sturm-und-Drang-Ideologie im Grunde schon Anachronismus. Der gerade aus Italien zurückkommende Goethe hat bereits längst vergessen, dass er einst Autor des eisenhändigen Götz von Berlichingen war, er ist nun ein Klassiker, dem ausschweifende Phantasien des ehemaligen Pempelforter Bekannten unmöglich gefallen können. Voll Widerwillen verzieht er das Gesicht: Ardinghello sei ihm „verhasst“, weil er „Sinnlichkeit und abstruse Denkweisen durch bildende Kunst zu veredeln und aufzustutzen unternahm“[23]. Doch – das ist aber wahrscheinlich ein unbeabsichtigtes Kompliment – Heinses Roman löst bei ihm gleiche Bedenken aus, wie... die Räuber Schillers. Der letztere übrigens, mit Heinse in einem so wenig schmeichelhaften Zusammenhang erwähnt, nennt seinerseits Ardinghello in Über naive und sentimentalische Dichtung „eine sinnliche Karikatur, ohne Wahrheit und ohne ästhetische Würde“. Allerdings stellt er gleichzeitig fest: „Doch wird diese seltsame Produktion immer als ein Beispiel des beinahe poetischen Schwungs, den die bloße Begier zu nehmen fähig war, merkwürdig bleiben“.[24]

     Das Urteil der beiden großen Weimarer hat eine niederschmetternde Kraft und verdammt Heinse bald zu einer etwas schemenhaften Existenz in den Anmerkungen zur Geschichte des Romans im 18. Jahrhundert. Trotzdem scheint Ardinghello auf die zeitgenössische und spätere deutsche Literatur einen stärkeren Einfluss ausgeübt zu haben, als man gwöhnlich meint. Die Idee „der Emanzipation des Fleisches“, im Schaffen des jungen Clemens Brentano (in Godwi) und anderer Romantiker vorhanden, ist ohne Zweifel einer der Hauptfäden von Heinses Roman und die Gestalten von „emanzipierten“ Frauen, wie etwa Molly oder Ottilie bei Brentano, die Comtesse Blainville in Ludwig Tiecks William Lovell, die Titelheldinnen
von Friedrich Schlegels Lucinde und Karl Gutzkows Wally, die Zweiflerin, sind gewissermaßen geistige Töchter der Geliebten Ardinghellos, Fiordimona.
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J.J.Wilhelm Heinse
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