Mutter Erde! Tränk in meiner Aue
Deine Kinder nun mit frischem Thaue,
Und erquicke diese lechzende Flur!
Selig ist der Unschuld die Natur!
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Und bekanntlich ist es ja der sogenannte Kommentar, die Analyse, Auslegung, Wertung (also im speziellen Fall: Lob und Tadel Heinses), der Kunst erst als solche konstituiert und auch ihre Lesarten, die Abwertung und die Rehabilitierung, steuert - eben darin zeigt sich die Macht des Kommentars, den auch wir durch die Ausrufung eines Heinse-Jahres mit- und weiterschreiben.
· Wer heute einen Dichter und Kunstschriftsteller ehrt, dem über fast zwei Jahrhunderte der Ruf als enfant terrible der Goethezeit und der Geruch des Abseitigen überhaupt anhaftete, wird sich zumindest den Verdacht gefallen lassen müssen, hier werde späte Nobilitierung aus dem Geist des 21. Jahrhunderts heraus betrieben, einem Denken dem nichts mehr befremdlich, sondern menschlich, allzumenschlich vertraut erscheint.
Was sollte da ein sich expressiv gebärdender Künstler des achtzehnten Jahrhunderts mit seiner Propaganda für den sinnlichen Genuß schocken?
Was aber macht einen Mann wie Heinse so interessant, daß sich gleich drei der Hauptwirkungsstätten des Dichters anläßlich seines zweihundertesten Todestages zu denkwürdiger - und kulturpolitisch - vorbildlicher - Kooperation verbinden?
Das Skandalon Heinse ist in der Zeit des allgegenwärtigen mit Erotik aufgeladenen Kulturbetriebs gewiß keines mehr, heute, wo multimediale Sex Sells-Strategien selbst den reinsten Goethe-Jünger in seinem bibliophilen Humanismus nicht mehr zu erschüttern vermögen und ihn sogar zum hartgesottenen Liebhaber der einschlägigen priapeischen Stellen seines Meisters befähigen.
Und finden wir beim Blättern in den literaturgeschichtlichen Wälzern nicht, daß der vornehmliche Grund für das Vergessen um Heinse ein geschichtlicher ist? Für die patriotische Blumenlese konnte eine deutsche Germanistik, die sich gerade ihre fehlende Nationalgeschichte mit Nibelungenlied und Merseburger Zaubersprüchen neu erfand, Heinses üppig ins Kraut schießende Kunstgewächse nicht gebrauchen; ein vermeintlich sittenloser Feuerkopf und Schilderer unbürgerlich-exotischer Existenzen, dazu behaftet mit
· dem Stigma der Ablehnung durch die mittlerweile zu Säulenheiligen avancierten Weimarer Klassiker wurde schlicht als degoutant empfunden.
Doch eine lediglich historische Erklärung stellt für die Frage nach dem Nicht-Ereignis von Kunst immer eine unzureichende Antwort dar.
So wie Bach von Mendelssohn-Bartholdy für die Nachwelt neu entdeckt wurde und erst das neunzehnte Jahrhundert sich wieder auf Rembrandt besann, so wie nach der 1848 Revolution der vergessene Arthur Schopenhauer zum neuen Modephilosophen avancierte oder E.T.A.Hoffmann erst den Umweg über Amerika und Frankreich, über Poe und Baudelaire, nehmen mußte, um in Deutschland ,,anzukommen”, so wechselvoll und zeitversetzt wird Kunst nicht selten zum Ereignis.
J.J.Wilhelm Heinse